Kautschuk – von der Metamorphose eines Schlüsselrohstoffs für Continental
Als Rohstoff hat Kautschuk sowohl die Identität als auch die 150-jährige Geschichte von Continental entscheidend geprägt. Dieser Rohgummi war für die Produktion so zentral, dass er ursprünglich sogar im Unternehmensnamen zu finden war: Continental-Cautchouc- & Gutta-Percha-Compagnie.
Doch nicht nur für Continental war und ist der Rohstoff von großer Bedeutung: Kautschuk bestimmte auch maßgeblich die Produktionsmöglichkeiten in der gesamten Gummi-Branche. So stand er über lange Zeit hinweg im Mittelpunkt des globalen Handels. Das machte den Rohstoff zum Seismographen für die politisch-wirtschaftliche Entwicklung der vergangen 150 Jahre.
Im 19. Jahrhundert wurde Kautschuk fast ausschließlich in Brasilien abgebaut. In Deutschland galt er jedoch zunächst als Exote unter den Rohstoffen. Allerdings: Schnell stieg der weltweite Verbrauch von Kautschuk und damit auch seine Bedeutung für die Produktion an. Das Problem dabei: Der Welthandelsmarkt für Rohgummi wurde zu diesem Zeitpunkt noch von wenigen britischen Handelsfirmen beherrscht. Letztere versuchten über Marktinterventionen und Angebotsverknappungen, die Preise in ihrem Sinne zu beeinflussen. Hinzu kam, dass die Grundstoffe für die sich rasant entwickelnde Gummibranche zu dieser Zeit ungewöhnlich großen Preisschwankungen unterworfen waren.
Um sich von den starken Preisfluktuationen und den damit verbundenen potenziellen Versorgungsengpässen unabhängiger zu machen, verfolgte der Continental-Vorstand gleich mehrere Strategien: So gründete Continental 1895 eine eigene Handelsfirma in Peru. Diese Firma setzte unter anderem einen Dampfer mit dem Namen „Continental“ zum Transport von Rohgummi ein, welcher jedoch bereits ein Jahr später samt Ladung sank. Ein neuerlicher Anlauf zur Eigenversorung mit Rohgummi wurde zunächst nicht gestartet. Stattdessen hatte man sich 1908 an einem brasilianischen Unternehmen zur Gewinnung von Kautschuk beteiligt.
Um die Rohstoffversorgung zu gewährleisten, setzte Continental bereits früh auf Recycling: Im Jahr 1903 wurde eine Fabrik zur Wiederaufbereitung und Verwertung von Altgummi in Seelze bei Hannover eröffnet. Durch diesen Schritt hat Continental damals den Grundstein für seine Nachhaltigkeits-Strategie gelegt. Letztere hat das Unternehmen dann um zahlreiche weitere Maßnahmen bis in die Gegenwart ausgeweitet und weiterentwickelt.
Um zudem unabhängiger vom globalen Kautschuk-Handel zu werden, beteiligte sich Continental 1906 an den ersten Versuchen, Synthetik-Kautschuk herzustellen. Mit dem Ersten Weltkrieg ging allerdings gleich ein doppelter Umbruch in der Rohstoffsituation von Continental einher: Zum einen gab es einen einschneidenden Übergang von Wild- zu Plantagenkautschuk, begleitet von geänderten Qualitäts- und Verarbeitungsansprüchen. Zum anderen war Deutschland zu dieser Zeit weitestgehend von der Kautschukversorgung abgeschnitten.
Mit dem Kriegsende verbesserte sich die Rohstoffversorgung für Continental wieder: Deutschland war nun wieder in den wichtigsten Kautschukhandelszentren der Welt präsent und stieg auch wieder in den internationalen Handel ein.
Als 1929 die Kautschukpreise fielen, wurde der Standort für das Recycling von Altgummi von Seelze bei Hannover nach Hannover-Limmer verlegt. Die Versorgung mit Kautschuk erreichte nun ein Rekordhoch: Im Jahr 1929 verbrauchte Continental 13.000 Tonnen Naturkautschuk – fast vier Mal so viel wie im letzten Vorkriegsjahr. Binnen zweier Monate wurde die gleiche Menge an Rohgummi verbraucht, wie im gesamten Jahr 1913.
Zum damaligen Zeitpunkt steuerten Monat für Monat 144 Eisenbahnwaggons, voll mit Rohkautschuk, die Rohstofflager in Hannover an. Dazu kamen 35 Eisenbahnwaggons mit Baumwollgewebe, knapp 600 Waggons mit Kohle und 17 Waggons mit Benzin. Um daraus 83.000 Autoreifen zu produzieren, wurden zudem 44.000 Tonnen Dampf und 3.989 Mio. KW Elektrizität verbraucht. Für die damalige Zeit waren dies beeindruckende Zahlen – nicht nur für die Finanzbuchhalter von Continental, sondern auch für die gesamte damalige Branche.
In der Folgezeit geriet der Kautschuk-Handel erneut in den Strudel politischer Ereignisse: Das NS-Regime baute die deutsche Wirtschaft in eine Ersatzstoffwirtschaft um, die die Entwicklung von Synthesekautschuk („Buna“) vorantrieb. Aufgrund des deutlich höheren Preises reagierte der Continental-Vorstand zunächst skeptisch auf die Verwendung von Synthesekautschuk. Letztlich integrierte man diesen aber doch ohne Wiederspruch in die Produktion – ganz im Sinne des NS-Regimes.
Nach Kriegsende hemmten Preissteigerungen und Knappheit den Import von Rohstoffen, sodass die Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit massiv gefährdetet war.
In den Folgejahrzehnten nahm der Anteil an Synthesekautschuk immer mehr zu. Das half dabei, die weiteren Preisschwankungen beim Naturkautschuk zumindest teilweise abzufedern. Dennoch beeinflussten zahlreiche weltpolitische Spannungen und Konflikte die Versorgung mit Rohstoffen erneut: So bekam Continental beispielsweise ihre Abhängigkeit vom Rohstoff Erdöl infolge der Ölpreis-Krise in den 1970er Jahren deutlich zu spüren.
Um insgesamt weniger auf die internationale Rohstoffversorgung angewiesen zu sein, plante Continental deshalb 1980 eine eigene Kautschukplantage in Indonesien. Dieses Projekt wurde jedoch angesichts der hohen Risiken bezüglich Kapitaleinsatz und Investitionssicherheit bald wieder auf Eis gelegt.
Eine weitere Folge der Ölkrise: Das umweltpolitische Bewusstsein der Deutschen wuchs in den 1970er Jahren stark an. Auch bei Continental wurde zunehmend in Maßnahmen investiert, um die Nachhaltigkeit in der Produktion zu steigern. Im Jahr 1977 baute das Unternehmen beispielsweise im Werk Vahrenwald ein neues Kühlwasserkreislauf-System ein. So konnte auf den bisherigen Verbrauch von Trinkwasser zur Kühlung der Maschinen verzichtet werden. Zwei Jahre später wurde das Werk Limmer zudem mit Luftfilteranlagen ausgestattet, um die Abluft beim Altreifenrecycling zu neutralisieren.
1992 wurde schließlich ein umfassendes Konzept für eine, an der Umwelt orientierte Unternehmensstrategie entwickelt. In dessen Folge wurde 1994 – in Ergänzung zur Fabrik für die Wiederaufbereitung und Verwertung von Altgummi in Hannover-Limmer – ein eigenes Recyclingunternehmen für Reifen gegründet. So gelang Continental in den 1990er Jahren eine enorme Weiterentwicklung ihrer frühen Nachhaltigkeitsgedanken aus dem 20. Jahrhundert.
Bis zum Beginn des neuen Jahrtausends hatte Continental ihr Beschaffungs-management weiter professionalisiert. Ökobilanzen, die die Umweltauswirkungen über den gesamten Produktlebensweg aufzeigten, wurden zum Standard in allen Werken. Eine tiefgreifende Verzahnung von Rohstoffmanagement, Umweltpolitik und Nachhaltigkeitszielen verfolgt Continental seit 2006. Von hieran entwickelte sich auch eine neue Sichtweise auf den Kautschukeinkauf und das damit verbundene Lieferkettenmanagement. Fast 15 Jahren nach seinem Start wurde das Continental-Umweltmanagement-System von 1992 also weiterentwickelt und neu fokussiert. Ab sofort wurde explizit auch der Umweltschutz als fester Bestandteil der operativen Managementaufgaben verstanden und in ein umfassendes Managementsystem eingebettet.
Ein eigens ins Leben gerufener Businessbereich „Qualität und Umwelt“ überwachte fortan die Einhaltung der Prinzipien zur Ressourcenschonung sowie die Verpflichtung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zum Umweltschutz. Gleiches gilt für die Berücksichtigung der ökologischen Auswirkungen über die gesamten Wertschöpfungsketten hinweg und während des gesamten Produktlebenszyklus. Ebenso sorgte der Businessbereich dafür, dass die operative Umweltrelevanz in der Produktion auch konzernweit verfolgt wurde.
In den Folgejahren halfen zwei Ansätze Continental dabei, seine Rohstoffversorgung anzupassen: Erstens wurde im Rahmen des Taraxagum-Projektes seit 2007 Kautschuk aus russischem Löwenzahn industriell genutzt. Zweitens wurden im Jahr 2018 die definierten Nachhaltigkeitsfaktoren auch auf die Lieferketten ausgedehnt. Folglich etablierte sich bei Continental für die Rohstoffbeschaffung eine fest geschriebene „Continental-Einkaufspolitik für nachhaltigen Naturkautschuk“. Mit der Integration des Nachhaltigkeitsaspekts in die Beschaffungsprozesse wurden also die bereits bestehenden Kodizes zu ethischen, sozialen und ökologischen Aspekten erweitert und einer stärkeren Überprüfbarkeit unterworfen.
Im Rückblick zeigt sich noch einmal deutlich, welche Tragweite die Umbrüche bei der Rohstoffversorgung für Continental hatte – insbesondere beim Kautschuk. Es zeigt sich aber auch, wie viel Kontinuität sich durch die Geschichte des Unternehmens zieht: Angefangen bei der Sensibilität gegenüber Preisfluktuationen bis hin zu politisch bedingten Abhängigkeiten in der Rohstoffbeschaffung. Kautschuk- und Rohstoffeinkauf war bei Continental schon immer eine sehr anspruchsvolle Aufgabe – das galt 1880 ebenso wie 2020.
Gleichzeitig wird aber auch deutlich, wie sich die Naturkautschuk-Beschaffungspolitik des Untenehmens über die Jahrzehnte zu einem ganzheitlich ausgerichteten, nachhaltigkeitsorientierten, komplexen Ressourcen-Management entwickelte. Dabei hat sich nicht nur die technische Verwertung des Kautschuks verändert, sondern gleichzeitig auch das Bewusstsein für diesen Rohstoff. Neben Kautschuk kamen im Laufe der Jahrzehnte zwar weitere wichtige Rohstoffe hinzu, sodass Continental den einstigen Hauptrohstoff längst nicht nur aus seinem Namen gestrichen hat.
Dennoch hat Kautschuk nach wie vor eine hohe Bedeutung für Continental: 2019 machte Naturkautschuk noch immer 37 Prozent des Gesamtkautschukverbrauchs aus, Synthesekautschuk hingegen 63 Prozent.