Die Continental-Aktie: Lebenszyklen eines Wertpapiers im Wandel der Kapitalmarktentwicklung
Der Aktienkurs von Continental ist wie ein Seismograph für die Entwicklung des Unternehmens in den vergangenen 150 Jahren. Sein Schicksal ist mit dem Unternehmen noch enger verwoben als der Kautschukpreis (vgl. Kapitel 4). Die Continental-Aktie erlebte in ihrem langen Leben spektakuläre Höhenflüge, aber auch massive Abstürze. Sie überstand zwei Weltkriege und Inflationen und mindestens fünf große Zusammenbrüche der Börse. Dabei durchlief sie die verschiedenen Stadien des Finanz- und Kapitalmarkts – von der vielfach noch lokalen Börsenwelt der Industrialisierungsphase im Kaiserreich bis zum globalen Finanzmarktkapitalismus unserer Gegenwart. Die Continental-Aktie brachte über die vielen Jahrzehnte hinweg zahllose Groß- wie Kleinaktionäre als Anteilseigner am Konzerngewinn durchaus Wohlstand. Sie verlangte ihnen dabei aber auch einiges an Durchhaltevermögen ab.
Die Anfangsjahre der Continental-Aktie vor dem Hintergrund wirtschaftlicher und politischer Umbrüche
Nach der Gründung von Continental 1871 war die Aktie zunächst ausschließlich den Gründern vorbehalten. Erst im Jahr 1897 kam sie dann in den freien Handel. Und doch: Bis in das 20. Jahrhundert blieb der Aktienbesitz hauptsächlich in den Händen der Gründer. Das lag zum einen am hohen Preis der Aktie: er lag bei etwa dem Doppelten eines durchschnittlichen Jahreslohns eines damaligen Fabrikarbeiters. Zum anderen nahmen die damaligen Unternehmensgründer auch weiterhin die Vorrechte bei der Aktienausgabe in Anspruch.
Infolge der niedrigen Aktienstreuung schwankte der Kurs schon bei geringen Nachfragen oder Verkäufen heftig. Erst nach der Jahrhundertwende erweiterte sich der kleine und exklusive Kreis der Continental-Aktionäre durch neue Aktionäre, die von außen hinzukamen.
An der Entwicklung des Aktienwerts von Continental lässt sich dabei gut beobachten, wie abhängig die Kurse schon damals von externen wirtschaftlichen und politischen Ereignissen im In- und Ausland waren.
So sorgten Ende des 19. Jahrhunderts insbesondere das boomende Fahrradreifen-Geschäft und der Beginn der Automobilreifen-Fertigung für einen rasanten Höhenflug des Wertpapiers.
Dagegen kam es in der Inflationszeit nach dem Ersten Weltkrieg zu heftigen Kursturbulenzen. Als Folge der Inflation kletterten die Aktienkurse in schwindelerregende Höhen: So erreichte der Kurs der Continental-Aktie Anfang Dezember 1923 einen historischen Höchststand von 6 Billionen Mark.
Die rasante Geldentwertung im Inland barg dabei das Risiko, dass ausländische Firmen deutsche Unternehmen zu billigen Preisen übernehmen konnten. Bei Continental hatte man sich gegen eine Übernahme frühzeitig gewappnet, indem man den befreundeten amerikanischen Reifenkonzern Goodrich als Ankeraktionär ins Boot holte. Er übernahm sukzessive etwa 25 Prozent des Aktienkapitals und stellte ein wertbeständiges Investitionskapital in US-Dollar zur Verfügung.
Diese Investition nutzte der Continental-Vorstand seinerseits unter anderem, um Aktien seines wichtigsten Konkurrenten Excelsior mit dem klaren Ziel der späteren Übernahme aufzukaufen. Das bildete die Grundlage für die schnelle Erholung der Continental-Aktie in der Weimarer Republik. In dieser setzte sie bald wieder zu einem neuen Höhenflug an.
1923 hatte Continental inzwischen drei Viertel des Aktienkapitals der Excelsior in der Hand. Der Übernahmeversuch scheiterte jedoch unter anderem am Widerstand des Betriebsrats und der Belegschaft der Excelsior. 1927 startete Continental einen neuen Anlauf zur Integration des Wettbewerbers in den eigenen Konzern. Nach 1 Mio. Reichsmark Verlust im Vorjahr war die Excelsior finanziell angeschlagen. Als im Zuge der notwendig gewordenen Sanierung erneut eine Kapitalerhöhung mit einer Neuemission von Aktien erfolgte, sicherte sich Continental über 98 Prozent des Aktienkapitals. Damit war eine der größten Hürden für die Fusion, das Problem der Abfindung der Excelsior-Aktionäre, aus dem Weg geräumt.
Die NS-Zeit prägte die Entwicklung der Continental-Aktie durch eine aktionärsfeindliche Politik des NS-Regimes mit Einschränkungen des Börsenhandels, Dividendenabgabenverordnung und Stoppkursen. Continental war wegen seiner wieder angestiegenen Dividendenzahlungen auf inzwischen 14 Prozent ins Visier von NSDAP-Funktionären geraten. Diese wetterten gegen die „gemeinschaftsschädigende Bereicherung der Anteilseigner“. In diesem Zusammenhang war 1938 war eine öffentliche Debatte über den Anteil von „Nichtarieren“ an den Continental-Aktionären und deren „jüdischem Charakter“ aufgeflammt.
Zwischen „Wirtschaftswunderjahren“ und langer Krisenperiode
Nach der Währungsreform im Juni 1948 erlitt die Continental-Aktie wie schon 1924 und wie auch alle anderen Industrieunternehmensaktien zunächst einen kurzen Kurssturz. Auf diesen folgte jedoch eine lange und stetige Aufwärtsentwicklung.
Die steile Aufwärtsbewegung setzte sich zunächst auch in den 1960er Jahren fort: In dieser Zeit entwickelte sich die Continental-Aktie zu einer Art Volksaktie mit breiter Streuung und vielen Kleinaktionären. In dieser Zeit stand die Continental-Aktie auch auf den Empfehlungslisten der Bankhäuser. Anfang Februar 1952 etwa hatte die Bayerische Hypotheken- und Wechselbank ‚Continental-Gummi‘ mit dem Hinweis auf den seit 1951 erwirtschafteten Rohgewinn und der wieder aufgenommenen hohen Dividendenzahlungen zum Kauf empfohlen.
In kurzer Zeit stieg die Zahl der Aktionäre deutlich, die hohe Erwartungen an die künftigen Gewinne des Unternehmens hatten und weitere Dividendenerhöhungen forderten.
Von einer kreativen Nutzung des Kapitalmarkts und innovativen Ideen zur Beförderung der Aktienkultur und des Werts der Continental-Aktie konnte dennoch im Hinblick auf den inzwischen amtierenden Continental-Vorstand keine Rede mehr sein. Im Gegensatz zur Zeit der Unternehmenslenker Seligmann und Tischbein gedieh unter dem Aufsichtsratsvorsitzenden Georg von Opel eine konservative Buchhalter-Mentalität. So lancierte er beispielsweise im November 1958 die Idee, die Continental-Aktie in den USA an der Börse zuzulassen, und beauftragte den Vorstand mit entsprechenden Prüfungen. Dieser Plan scheiterte jedoch an zahlreichen Bedenken ebenso wie die Einführung der Continental-Aktie an der Züricher Börse ein Jahr später.
Auch die Idee, Belegschaftsaktien einzuführen scheiterte zunächst, bevor 1971 anlässlich des 100-jährigen Gründungsjubiläums erstmals Belegschaftsaktien ausgegeben wurden. Mit viel Werbung hatte man zu dieser Zeit die Arbeiter und Angestellten davon überzeugt, sich Continental-Aktien zu kaufen, die zu einem reduzierten Ausgabepreis ausgegeben wurden.
Die Continental-Aktie in der Ära des Finanzkapitalismus: Vom Höhenflug zum Strömungsabriss im Sog der Corona-Krise
Ab etwa 1983 hatte der Niedergang der Continental-Aktie ein Ende: Sie startete in einen neuen Lebenszyklus, der auch widerspiegelte, dass sich das Unternehmen zum Großteil selbst neu erfand. Hinzu kam, dass der Continental-Vorstand die Spielregeln des neuen ‚investor capitalism‘ verstand. Er begann von sich aus, aktiv auch das Interesse ausländischer Investoren zu suchen.
1983 kehrte Continental, auch vom Rückenwind der sich erholenden Weltkonjunktur begünstigt, in den Kreis der dividendenfähigen deutschen Unternehmen zurück. Alle Konzernbereiche schrieben wieder schwarze Zahlen. Hierzu trugen auch die spektakulären Akquisitionen von Uniroyal, General Tire und Semperit bei.
Die Pflege der Investoren und die Beachtung des ‚shareholder value‘ wurden nun zentrale Bestandteile eines gezielten Finanzmarketings bei Continental. Das zeigte sich auch daran, dass erstmals im Geschäftsbericht für 1988 der Continental-Aktie ein eigener Platz eingeräumt wurde. In der Folge wurde nun regelmäßig über die entsprechenden Entwicklungen in den abgelaufenen Geschäftsjahren berichtet. Die Continental-Aktie war inzwischen an allen damaligen acht deutschen Börsen sowie an vier wichtigen Auslandsbörsen in Europa im Handel und wies eine hohe Liquidität auf.
Trotz aufwendiger Versuche, im Rahmen einer neuen Konzernstrategie Continental auf internationaler Ebene als „innovativster Partner der Automobilindustrie zu verkaufen“ blieb Continental dennoch auch in der Folgezeit ein potenzieller Übernahmekandidat.
Schon 1999 war der Kurs der Continental-Aktie im Zuge einer neuerlichen Krise der Automobilindustrie und einer damit zusammenhängenden Zurücknahme der Gewinnerwartungen durch den Continental-Vorstand deutlich eingebrochen.
2003 begann dann aber eine Entwicklung, die die Continental-Aktie in neue Höhen katapultierte, bevor sie 2009 infolge der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise erneut einen kurzzeitigen Einbruch verzeichnete. Erst jetzt begannen in den Augen des Continental-Vorstands die Kapitalmärkte die neue Ausrichtung des Konzerns zu honorieren. Nach siebenjähriger Unterbrechung kehrte das Unternehmen damit wieder in den Kreis der TOP-30-Aktienwerte in Deutschland zurück. Die Rückkehr in die Börsenoberliga brachte der Aktie auch wieder eine gesteigerte Aufmerksamkeit auf internationalen Finanzmärkten und bei weltweiten Investoren ein.
Zu der positiven Kursentwicklung trugen zudem die Neubesetzung der Position des Vorstandsvorsitzenden und die Wahl eines neuen Vorsitzenden maßgeblich bei. Auch die Kapitalerhöhung zum Jahresanfang 2010 sorgte durch ihre erfolgreiche Durchführung für eine Aufhellung der Stimmungslage.
Bis 2015 kam es zu weiteren Kursanstiegen, erstmals wurde die 200-Euro-Marke übersprungen und die Aktie erreichte mit 230 Euro eine neue Rekordmarke. 2018 wurde diese dann mit 257 Euro noch einmal überboten.
Doch schon seit 2016 wurde die Luft für die Continental-Aktie auf ihrem Höhenflug merklich dünner – die Volatilität der Kursentwicklung nahm deutlich zu. Die Messung des Unternehmenserfolgs allein am Aktienkurs erwies sich als problematisch – insbesondere vor dem Hintergrund hoher Erwartungen der Investoren, denen die tatsächliche Unternehmensentwicklung gerecht werden konnte. Der negative Trend verstärkte sich im Frühjahr 2020 als die Corona-Pandemie einen weltweiten Börsen-Crash verursachte.
Immer wieder hatten in dieser Phase vor allem Spekulationen über einen grundlegenden Umbau des Konzerns statt Gewinnerwartungen für kurzzeitige Kurssprünge bei der Continental-Aktie gesorgt. Entsprechend gegenläufig wirkten sich aber auch Nachrichten über Milliardenabschreibungen und Verluste auf den Kurs aus.
Und dennoch zeigt der Blick zurück, dass sich an der Börse ein langer Atem auszahlt: Wer im August 1994 insgesamt 100 Continental-Aktien zum damaligen Nennwert von 5 DM und einem Kurs von umgerechnet 11,20 Euro gekauft hatte, der konnte, trotz aller Schwankungen und drei veritablen Börsenkrächen gegenüber den eingesetzten 1.120 Euro Ende 2017 einschließlich Dividendenzahlungen knapp 25.000 Euro verbuchen. Selbst Ende 2020 waren es immer noch ca. 15.000 Euro.
Fazit
Die regionale Verteilung des Streubesitzes Ende 2019 zeigt, dass es ungeachtet aller Lebenszyklen der Continental-Aktie einen Stamm an Kleinaktionären gibt, die dem Unternehmen über die vergangenen Höhen und Tiefen hinweg ungebrochen die Treue halten.
Wer sich im März 2020 beim Tiefstkurs von 55 Euro je Aktie oder auch kurz danach Continental-Anteile ins Depot gelegt hat, wird sich über Wertzuwächse freuen können – vorausgesetzt, er besitzt das notwendige Durchhaltevermögen und die doch auch immer wieder von den Continental-Aktionären geforderte Leidensfähigkeit.