Revolutionäre Zukunftsvisionen vs. Planung „auf Sicht“: Continental und ihre Ausrichtung im Wandel der Zeit
„Continental als weltweit agierendes Unternehmen für die Verarbeitung von Kautschuk“– diese Vision war bereits bei der Gründung von Continental wegweisend für ihre spätere Geschichte. Mit Ausnahme von Siegmund Seligmann hat aber wohl kaum jemand vor 150 Jahren tatsächlich daran geglaubt, dass der anfangs noch kleine regionale Betrieb aus Hannover einmal ca. 190.000 Mitarbeiter auf der ganzen Welt beschäftigen wird. Dennoch waren es Vorstellungen wie diese, die die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dazu motivierten, jeden Tag ihren Teil zu dieser Erfolgsgeschichte beizutragen.
In der Geschichte von Continental wurden die vielfältigen Visionen zur Zukunft des Unternehmens hauptsächlich von den Unternehmensleitern geprägt, die darauf aufbauend ihre Steuerung ausgerichtet haben: Sie reicht von stark zukunftsorientierten Vorhaben bis zur Planung der nächsten Schritte „auf Sicht“.
Eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der Zukunftsvorstellungen für Continental spielten auch immer wieder Aufschwünge und Krisen sowie technologische und gesamtgesellschaftliche Entwicklungen: Galten früher Laboratorien der F&E-Abteilungen als Maßstab für die Zukunftsfähigkeit von Continental, gewann im Laufe der Zeit das Zusammenspiel aus Ökologie, Ökonomie, Politik und Gesellschaft eine immer mehr an Bedeutung für die strategische Ausrichtung des Unternehmens.
Die Erfindung der neuen Mobilität: Beherrschung des Werkstoffs der Zukunft im „Gummizeitalter“ (1870er bis 1930er)
Im Zeitalter von Eisenbahnen, Pferdefuhrwerken und Hochrädern spielte Mobilität insgesamt eine eher untergeordnete Rolle. Damals war noch lange nicht absehbar, dass sich daraus jemals ein Massengeschäft entwickeln würde. Siegmund Seligmann erkannte aber bereits zu dieser Zeit ein entscheidendes Potenzial in Gummiprodukten. Er setzte auf die Beherrschung des Kautschuks als Werkstoffs der Zukunft und auf eine Diversifikationsstrategie, die Continental zum Vorreiter seiner Zeit machen sollte. Seiner Vorstellung nach sollte Continental zu einem weltweit operierenden kautschukverarbeitenden Unternehmen werden, das nützliche Gummiprodukte für den Alltag herstellt – allen voran Fahrrad-, Motorrad- und Automobilreifen.
Die Steuerung von Continental richtete er ausgehend davon als „Plattform-Ökonomie“ aus: Das einzigartige Wissen um den Werkstoff Kautschuk war sein Schlüssel, um immer neue Märkte, Produkt- und Anwendungsfelder zu erschließen. Hierfür richtete er bereits 1874 ein Kautschuk-Laboratorium ein, das damit begann, systematisch die Gummifabrikation und Kautschukverarbeitung zu erforschen. Diese Verwissenschaftlichung der Industrie (F&E) legte den Grundstein für die zukunftsweisende Ausrichtung des Unternehmens.
In den 1920ern strebte Willy Tischbein mithilfe des amerikanischen Reifenkonzerns Goodrich die Entwicklung von Continental zum Reifenkonzern an: Zusammen mit Goodrich wollte er den europäischen Reifenmarkt aufmischen und die starken Konkurrenten Michelin, Dunlop und Pirelli in die Defensive drängen. Insgesamt blieb die internationale Expansion jedoch letztlich hinter den Erwartungen zurück – insbesondere aufgrund der zögerlichen Haltung des Goodrich-Vorstands und der wachsenden wirtschaftlichen Turbulenzen zwischen den beiden Weltkriegen.
Die Zukunft liegt in der Bewältigung der Gegenwart (1930er bis 1970er Jahre)
In der NS-Zeit lagen die Zukunftsplanungen von Continental hauptsächlich in den Händen des Reichswirtschaftsministerium und des Reichsamts für Wirtschaftsaufbau. In dieser Phase war Continental nahezu vollständig den Plänen und Zielen des NS-Regimes unterworfen. Einer immer weiteren Expansion waren damit enge Grenzen gesetzt, da das NS-Regime auch in großen Unternehmen potenzielle Konkurrenten in der Rüstungs- und Kriegspolitik sah.
In der Nachkriegszeit suchte Continental zunächst erneut mit Hilfe amerikanischer Reifenkonzerne Anschluss an die Technologie und internationale Marktpräsenz. Doch anstelle weitreichender Visionen dominierten eine kurzfristige Wiederaufbau-Perspektive und die Fokussierung auf den Heimatmarkt. Die Gummiwelt dort war nicht von Aufbruchswillen und Zukunftsvorstellungen geprägt, sondern von fest gefügten Strukturen.
Diese bestimmten auch das Denken des damaligen Continental-Vorstands. Zukunftsweisende oder international ausgerichtete Expansions-Strategien spielten zu dieser Zeit keine Rolle. Strategische Planungen führten stattdessen in erster Linie zu einer Festschreibung des Status Quo.
Dabei fühlten sich die damaligen Continental-Vorstände durchaus für die Zukunft gerüstet und wiegten sich angesichts großer F&E-Laboratorien mit neuesten Messgeräten und hohen F&E-Aufwendungen in falscher Sicherheit: Diese sollten eigentlich dafür sorgen, dass neue Technologien und zukünftige Reifenentwicklungen nicht verpasst werden. Dennoch stand die Erforschung zukunftsweisender Technologien im Hintergrund und innovative Reifenkonzepte wurden zu dieser Zeit von Wettbewerbern wie Michelin umgesetzt.
Ein Paradigmen-Wechsel hin zu einer technologiegetriebenen Vision erfolgte überraschend anlässlich des 100. Jubiläums 1971. Dort stellte Continental Kunden, Mitarbeitern und der Öffentlichkeit die Broschüre „Die Zukunft der Federung“ vor. Darin wurde Continental nicht mehr als Lieferant von Produkten gesehen, sondern als Entwickler innovativer Lösungen. Im Fokus stand nun nicht mehr ausschließlich die Zulieferung der „Hardware“, sondern auch die Erstellung der „Software“ im Sinne einer Beratung und weiterer Dienstleistungen rund um die Produkte.
Insgesamt formte sich zu dieser Zeit das Zukunftsbild von Continental als moderner Dienstleistungskonzern. Allerdings: In der langen Krise des Unternehmens zwischen 1970/71 bis 1981/82 war weder Platz für Visionäre noch für Verteidiger des Status Quo. Sie wichen den Sanierern, die die akuten Probleme, die das Unternehmen nun auf allen Ebenen verfolgten, lösen mussten. Auf der operativen Ebene wurde daher über viele Jahre weiter ohne nennenswerte Innovationen gearbeitet.
Erst im Zuge der Vision von Carl H. Hahn Continental aus der Krise heraus zu einem international agierenden Reifenhersteller zu entwickeln, gelang die Flucht nach vorne. Hahn trieb wieder verstärkt die internationale Expansion des Unternehmens voran. Seine zukunftsgerichtete Unternehmensführung unterstrich er zudem mit der erstmaligen Einführung einer Fünf-Jahresplanung und Instrumenten des Forecastings.
Visionen vom integrierten Zuliefer- und Technologiekonzern und vom „intelligenten Reifen“ (1980er Jahre bis 2001)
In den folgenden Jahren wurde der eingeschlagene strategische Pfad der Internationalisierung weitergegangen. Zudem wurden die F&E-Aktivitäten intensiviert und mit dem Zusammenschluss der F&E-Zentren in Hannover-Stöcken gelang es, die Kompetenzen zentral zu bündeln. Ausgestattet wurden die Zentren mit zu dieser Zeit modernsten Technologien wie Hochleistungsrechnern, die Continental einen technologischen Wettbewerbsvorteil verschafften sollten.
Einen Dämpfer erlitt der Glaube an die eigene Zukunftsfähigkeit und Resilienz jedoch im Zuge des Übernahmeversuchs durch den italienischen Konkurrenten Pirelli 1990/1991. Wieder einmal wurde das Unternehmen von außen mit industriepolitischen und strategischen Planspielen konfrontiert, die die weitere Entwicklung zu beeinflussen und zu lenken versuchten. In der Überzeugung, dass Continental die Zukunft auch ohne Pirelli meistern konnte, gelang schließlich eine Abwehr der Übernahme.
Aus der Krise heraus trafen die Verantwortlichen die Entscheidung zur Diversifikation und bauten den Automotive-Bereich als drittes Standbein auf. Ihre Idee: Durch Verständnis der Fahrwerktechnologie konnten auch Entwicklungen in der Reifentechnologie besser antizipiert werden. Ab Ende der 1990er und Beginn der 2000er wurden die Zukunftsvorstellungen immer stärker in enger Verbindung zur zukunftsweisenden Mobilität geformt.
Die Zukunft ist scheinbar planbar. Ausrichtung auf die „Mobilität der Zukunft“ (2002 bis 2020)
Zu Beginn des neuen Jahrtausends herrschte die Wahrnehmung vor, dass sich die Welt insgesamt auf dem Weg in eine neue Ära der Mobilität befindet. In dieser Phase war so oft wie nie zuvor bei Continental von Zukunft die Rede: Die Zukunft der Mobilität schien sich relativ klar abzuzeichnen, Techniker und Ingenieure hatten ebenso wie die Unternehmensleitung scheinbar klare Vorstellungen von der künftigen Mobilität. Sie war mit dramatischen technischen Umbrüchen verbunden, aber zugleich auch von politischen Vorgaben geprägt.
Die Visionen orientierten sich dabei eng an den bereits erkennbaren „Megatrends der Automobilbranche“: der Megatrend Sicherheit mit seiner Vision vom unfallfreien Fahren, der Megatrend Umwelt mit seiner Vision vom emissionsfreien Fahren, der Megatrend Information mit seiner Vision vom allzeit vernetzten Fahren sowie der Megatrend kostengünstiges Fahren mit seiner Vision von erschwinglicher Mobilität für jeden und jede. „Ihre Mobilität. Ihre Freiheit. Unsere Handschrift“ lautete nun zusammengefasst die Unternehmensvision 2011, ergänzt durch den Slogan: „Die Zukunft startet früher mit Continental“.
Die unter diesem Anspruch in der Folgezeit in den F&E-Abteilungen entwickelten und serienreif gemachten Produkte und Anwendungen summierten sich bald zu einer eindrucksvollen Liste von Innovationen: vom weltweit ersten wassergekühlten Turbolader über das 48-Volt-Eco-Drive-Modul zur Senkung des Kraftstoffverbrauchs, die High Resolution 3D Flash Lidar-Sensortechnologie für eine Umfelderfassung in Echtzeit, hocheffiziente Bremssysteme, bis hin zum maschinell lernenden Fahrerassistenzsystem, das Autofahrern im innerstädtischen Verkehr durch Radarsensoren bei der Einschätzung der Verkehrslage und bei Abbiegemanöver unterstützt.
Die Entwicklung mündete schließlich 2019 in eine ganz neue Technologie der Zukunftsmobilität: den Continental In-Car-Server CAS1, der als rollender Hochleistungsrechner zum Herzstück der digitalen und vernetzten Mobilität wurde. Die innovative Server-Lösung reduzierte die zwischen 70 und 100 Steuerungsgeräte im Automobil und führt zu einem spürbaren Abbau von Komplexität im Innenleben des Fahrzeugs.
Gleichzeitig wurden die F&E-Aktivitäten weiter intensiviert und dezentralisiert. Und auch die Vernetzung und intelligente Technologien spielt eine immer größere Rolle: Der Wandel des Autos vollzieht sich hin zum „Connected Car“ mit einem ganz eigenen Ökosystem, das im Fokus der Forschung bei Continental steht. Im Unternehmen beschäftigen sich inzwischen aber auch zahlreiche weitere Experten in den verschiedensten Abteilungen sowie Führungskräfte mit der Welt in 10 bis 20 Jahren. Sie formulierten ihre Zukunftserwartungen in einer „Vision 2030“.
Darin spielten „Cloud-based Mobility Services“ und Servitization, d. h. die Ergänzung eines physischen Produkts durch Software, Sensorik und Serviceleistungen, ebenso eine Rolle wie die faktische Neuerfindung des Autos als Teil des Internets. Inwieweit diese Zukunftsszenarien auch dem tatsächlichen Mobilitätsverhalten der Menschen entsprechen, prüfen dabei Experten weltweit in der jährlichen „Continental Mobilitätsstudie“. Sie decken dabei sowohl Skepsis als auch Offenheit gegenüber automatisiertem Fahren auf und verweisen unter anderem auf erhebliche nationale und regionale Unterschiede etwa bei der Bereitschaft, Robo-Taxis zu nutzen.
Dabei wird deutlich: Wie einst der Luftreifen eine neue Technologie war, die den Nutzern erläutert werden musste, um sich durchsetzen zu können, so ist heute auch eine Erklärung des fundamentalen Transformationsprozesses der Mobilität notwendig.
Fazit
Die Geschichte von Continental zeigt, dass keine Vision und kein strategischer Weg, um sie zu erreichen, für immer richtig ist. Jede Zukunftsvorstellung – egal ob in naher oder weiter Zukunft – kann vor dem Hintergrund sich ständig weiterentwickelnder Märkte und Technologien sowie von gesellschaftlichen Ereignissen entweder beflügelt oder nichtig werden.
Blickt man auf die vergangenen 150 Jahre Continental zurück, so zeigen sich völlig unterschiedliche Unternehmensausrichtungen, die häufig abseits der damals jeweils als zukunftsträchtig erachteten technologischen und strategischen Pfaden lagen. Bemerkenswerterweise gab es in der Continental-Entwicklung niemals Tabus irgendwelcher Art, sich die Zukunft vorzustellen und diese zu bewältigen. Vorausgesetzt, es sicherte das Überleben, das Wachstum, die Prosperität und die Eigenständigkeit des Unternehmens.
Wie auch immer die Zukunft von Continental in den kommenden Jahren aussehen wird: Sie wird ein Unternehmen sein, das als Organisation mit all ihren Mitarbeitern durch das Selbstbewusstsein aufgrund ihrer Resilienz und Anpassungsfähigkeit geprägt ist und dadurch technologische Umbrüche ebenso wie gesellschaftliche Veränderungen letztlich erfolgreich bewältigt zu haben.