„Wir stellen jetzt die richtigen Weichen“
Dr. Steffen Schwartz-Höfler leitet die Zentralfunktion für Nachhaltigkeit bei Continental. Im Interview erklärt er, wie weit Continental in Sachen Nachhaltigkeit inzwischen ist und warum die Transformation vor und hinter den eigenen Werktoren jetzt erst so richtig beginnt.
Dr. Schwartz-Höfler, welche Rolle spielt Nachhaltigkeit für Continental?
Nachhaltigkeit wird zunehmend zu einem wichtigen Teil des Kompasses für die Geschäftsentwicklung. Wir sind überzeugt, dass nur nachhaltige Geschäfte ein Zukunftsgeschäft sind. Unsere ambitionierte Nachhaltigkeitsstrategie umfasst vier zentrale Fokusfelder: erstens die Klimaneutralität entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Zweitens emissionsfreie Mobilität und Industrie. Drittens vollständig zirkuläres Wirtschaften und viertens eine zu 100 Prozent verantwortungsvolle Wertschöpfungskette.
Wie muss man sich Ihre Rolle im Unternehmen vorstellen? Sind Sie eine Art Co-Vorstand?
Nein, auf keinen Fall. Das wäre anmaßend. Wir sind Teamplayer und keine Vetofraktion. Im Vorstand wird Nachhaltigkeit durch Ariane Reinhart als Vorständin für Personal und Nachhaltigkeit vertreten. Unsere Rolle als Konzernfunktion ist es, als Ratgeber nach innen zu agieren, zu überzeugen und Instrumente dafür zu entwickeln, dass die nachhaltige Transformation gelingen kann. Wir haben längst nicht alle Antworten. Und Continental ist nicht heute schon komplett grün. Nachhaltigkeit ist ein Marathon, der viele Zwischensprints benötigt. Wir wollen als Unternehmen durch Nachhaltigkeit neue Geschäfte ermöglichen und bestehende Tätigkeitsfelder verändern. Damit das gelingt, sind wir als Zentralfunktion und unsere Kolleginnen und Kollegen in den Geschäftsbereichen als Teil der jeweiligen Managementteams in viele Prozesse eingebunden – vom Vergütungssystem bis hin zur Strategieentwicklung.
Wie ist Ihr Team organisiert?
Das zentrale Team in Hannover gibt es seit 2018. Dazu kommen Nachhaltigkeitsteams in allen Geschäftsfeldern und ein großes, globales Netzwerk mit verschiedenen Personen an wichtigen Schnittstellen. Aber letztlich müssen alle mehr als 190.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an unseren Nachhaltigkeitsambitionen mitwirken, damit diese Wirklichkeit werden können.
Sind alle Aspekte von Nachhaltigkeit, die ökologischen wie die sozialen, für Continental gleichermaßen wichtig?
Auf jeden Fall. Aber die Trennung von Nachhaltigkeit in „E“nvironmental, „S“ocial und Corporate „G“overnance halte ich für ein überholtes Konzept. Ich würde da gern mit einer Gegenfrage mit Bezug zum Thema Klimawandel antworten: Es wird oft behauptet, der Klimawandel sei ein ökologisches Thema. Doch warum will die Menschheit den Klimawandel verhindern? Doch nicht nur wegen der Ökologie, sondern weil die ins Wanken geratene Ökologie schädliche Auswirkungen auf den Menschen hat. Das Soziale beim Kampf gegen den Klimawandel ist der Versuch, die negativen Auswirkungen auf den Menschen zu verhindern oder zumindest zu minimieren. Damit ist das Thema Klimawandel letztlich ein sehr stark ökonomisches und soziales Thema. Bei uns zählen neben Klimaneutralität auch emissionsfreie Mobilität und Industrie, zirkuläres Wirtschaften und verantwortungsvolle Wertschöpfungsketten zu den Kernthemen. Darüber hinaus haben wir acht sogenannte Fundamente definiert, von guten Arbeitsbedingungen bis zur nachhaltigen Unternehmensführung. Schließlich geht es insgesamt um ein gesundes Ökosystem der Mobilität und der Industrie – für Mensch und Umwelt gleichermaßen.
Wie klimaneutral produziert Continental heute schon?
Die Frage ist letztlich, bei welchen Hebeln man bereits klimaneutral ist – oder eben noch nicht. Selbstverständlich kann man die Höhe der aktuellen Emission bewerten und sie mit der Vergangenheit ins Verhältnis setzen. Doch je nachdem, wann man startet, ist man bei 30, 50 oder 80 Prozent Einsparung. Wir haben bei Continental Jahr für Jahr ungefähr 110 Millionen Tonnen Kohlendioxid, die im Rahmen der Wertschöpfung entstehen. Das deckt dann die gesamte Wertschöpfungskette ab – vom Herausholen des Rohmaterials bis hin zur Endverwertung des Produkts. Wir sprechen hier von den Scope-1-, Scope-2- und Scope-3-Emissionen. Davon machten 2019 die Scope-1- und Scope-2-Emissionen, also die eigenen Emissionen innerhalb der Werkgrenzen, noch rund 3,2 Millionen Tonnen aus. Das ist das Kohlendioxid, das bei der Produktion aus unseren eigenen Schornsteinen kommt oder beim Bezug von Strom und Dampf entsteht. Durch die komplette Umstellung all unserer Produktionsstätten auf grünen Strom sank diese Summe bis Ende 2020 auf weniger als eine Million Tonnen CO2. Das ist ein großer Erfolg – aber mit Blick auf die Klimaneutralität müssen wir von den 110 Millionen Tonnen CO2 auf eine Netto-Null kommen. Immerhin sind das 0,2 bis 0,3 Prozent der globalen Emissionen. Mit anderen Worten: Wenn wir unsere Hebel nutzen, hat das einen positiven globalen Impact und bringt neues Geschäft. Aber zugleich ist das eine ungleich größere Aufgabe, die auch über die Grenzen des eigenen Unternehmens hinaus geht und etwa Lieferanten und Kunden miteinschließt. Deshalb ist der grüne Strom in den Werken nur der erste von vielen Zwischensprints.
Wie sieht der zweite Zwischensprint aus?
Einen von vielen weiteren Zwischensprints hat der Vorstand der Continental AG Ende 2020 beschlossen. Wir bieten unseren Kunden seit Anfang 2022 die Möglichkeit, für ihre Geschäfte mit Continental schon heute Klimaneutralität entlang der gesamten Wertschöpfungskette zu erreichen, indem wir den sinnbildlichen CO2-Rucksack neutralisieren. Dabei setzen wir einen starken Fokus auf Continental-Produkte für emissionsfreie Fahrzeuge, bieten die Möglichkeit darüber hinaus auch für das Geschäft für Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor und für das Industriegeschäft an. Denn eines ist klar: Das Weltklima verzeiht kein Warten. Nur die Kombination aus Neutralisierung und Reduktion führt zum Ziel – einer möglichst geringen weiteren Erderwärmung im Sinne des Pariser Klimaschutzabkommens.
Gelingt diese Umstellung auf einen Schlag?
Da nicht auf einen Schlag die komplette Wertschöpfungskette auf klimaneutrales Wirtschaften umgestellt werden kann, werden als Zwischensprint die anfallenden Kohlendioxidemissionen durch sogenannte negative Emissionen, zum Beispiel durch Wiederaufforstungsprojekte, klimaneutral gestellt. Damit wechseln wir schon heute in die richtige Spur. Natürlich werden wir die negativen Emissionen schrittweise durch Maßnahmen ersetzen, welche die Emissionen schon vor der Entstehung vermeiden.
Warum sind es gerade die vier Fokusthemen Klimaneutralität, emissionsfreie Mobilität und Industrie, zirkuläres Wirtschaften sowie verantwortungsvolle Wertschöpfungsketten, die Sie antreiben?
Wir haben dazu vorab eine eingehende Analyse gestartet – auf der Suche nach den Nachhaltigkeitsthemen, welche die größten und umfassendsten Transformationen bringen und in denen Continental einen nennenswerten Hebel hat. Diese haben dann naturgemäß die größten Chancen-, aber auch Risikopotenziale. Dazu haben wir Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Lieferanten, Kunden, aber auch Investoren und die Politik sowie Nachhaltigkeitsagenturen um ihr Urteil gebeten. Die Entscheidung für diesen Fokus wird durch die Entwicklungen in Politik, Finanzmarkt und bei unseren Kunden kontinuierlich bestätigt.
Was bedeutet „emissionsfreie Mobilität und Industrie“?
Dahinter steckt die Vision vom emissionsfreien Fahren und von einer emissionsfreien industriellen Herstellung. Wohlgemerkt geht es dabei um die Nullemission, nicht um das emissionsreduzierte Fahren. Das Thema schließt auch weitere schädliche Emissionen wie Stickoxide und letztlich auch schädliche Partikelemissionen mit ein.
Und was ist mit zirkulärem Wirtschaften gemeint? Recycling ist schließlich ein alter Hut ...
… und genau deshalb haben wir uns auch bewusst für die Begrifflichkeit „zirkuläres Wirtschaften“ und nicht „Kreislaufwirtschaft“ entschieden. Kreislaufwirtschaft wird häufig vor allem im Abfall- und Recyclingkontext verwendet. Das impliziert aber, dass es immer noch Abfall gibt, den es zu behandeln gilt. Beim zirkulären Wirtschaften geht es um mehr: Es bedeutet komplett geschlossene Produkt- und Ressourcenkreisläufe, bei denen es keinen Müll mehr gibt, sondern nur noch Material am falschen Platz. Also eine Wirtschaft, in der alles immer wieder verwertet und verwendet wird. Das schließt zum Beispiel mit ein, dass Produkte bereits so konzipiert werden, dass sie leicht wiederverwendbare Komponenten enthalten und so erst gar kein Müll mehr entsteht. Ein Recycling in der bekannten Form, das oft nur in begrenzten Wiederholungszyklen betrieben werden kann, ohne Qualitätsverluste beim Material zu verursachen, greift da viel zu kurz.
Was haben wir uns unter „verantwortlichen Wertschöpfungsketten“ vorzustellen?
Nachhaltig wirtschaftende Unternehmen übernehmen Verantwortung für die komplette Wertschöpfungskette und damit auch die Gesellschaft als solche. Das Einhalten und Fördern von Menschenrechten beispielsweise ist wichtige Aufgabe für Unternehmen, nicht nur in den eigenen Werken, sondern gerade auch bei unseren Partnern und Zulieferern. Letztlich geht es aber noch weit darüber hinaus. Wir wollen unsere Risiken in diesem Bereich nicht nur kennen oder minimieren, wir wollen sie im positiven Sinne ausmerzen. Bis 2050 will Continental die Wertschöpfungskette auf der Grundlage von vollständig verantwortungsvoller Beschaffung und Geschäftspartnerschaften umgestalten.
Wann wird Continental komplett nachhaltig wirtschaften?
Wir sind auf einem guten Weg und mitten im Wandel. Bis spätestens 2050 müssen Klimaneutralität, emissionsfreie Mobilität, zirkuläres Wirtschaften und vollständig verantwortungsvolle Wertschöpfungsketten erreicht werden. Das ist eine komplett andere Weltwirtschaft, die wir uns dafür vorstellen müssen. Wirklich 100 Prozent nachhaltig kann man heute noch gar nicht sein. Es ist der vielbeschworene Marathon mit vielen Sprints. Wer sich zurücklehnt, wird abgehängt. Wahrscheinlich müssen wir sogar deutlich schneller sein als 2050. Und auch dann wird es neue Themen geben. „Noch nachhaltiger“ wird es immer geben.
Treibt ein Unternehmen von der Größe von Continental eigentlich die Entwicklung noch selbst oder wird es vielmehr bei der Nachhaltigkeit getrieben – von Politik, Investoren, Kunden oder Medien?
Es kommt immer beides zusammen. Wir sind gleichzeitig Treiber und Getriebener. Wir würden einige Rahmenbedingungen sicherlich anders formulieren. Doch wir wollen auch selbst gestalten. Nachhaltigkeit wird allzu oft unter Begriffen wie „Verzicht“ oder „Ende des Wachstums“ diskutiert. Doch im Kern geht es um enorme Chancen, die sich durch sich wandelnde Produkte und Märkte erst ergeben. Diese Chancen zu erkennen und das eigene Geschäftsmodell konsequent danach auszurichten, darauf kommt es jetzt und in Zukunft an. Wenn man dagegen versucht, das zu bewahren, was man gerade hat oder tut, gerät man zwangsläufig in eine rückwärtsgewandte Diskussion unter dem Motto „etwas weniger schlecht weitermachen, was man gerade macht“. Diese Defensivstrategie kann nicht aufgehen. Vielmehr geht es darum, komplett neue Chancen zu ergreifen und die Transformation bestehender Geschäftsfelder aktiv voranzutreiben. Auf dem Weg dahin wird sich mit Sicherheit aber auch das ein oder andere aktuell noch wirtschaftlich erfolgreiche Geschäft verändern müssen – weil es auf Dauer eben nicht zukunftsfähig ist. Wenn ich weiß, dass ein Wandel kommt, sollte ich diesen vorausschauend mitgestalten, statt ihn zu ignorieren oder gar dagegen anzukämpfen.
Welche Rolle spielen die Mitarbeitenden bei der Nachhaltigkeitswende?
Nachhaltigkeit wird durch Menschen erreicht – und für Menschen. Ohne unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geht es nicht. Wir benötigen im Unternehmen zwar keine Graswurzelbewegung für die Umsetzung nachhaltiger Strategien, sehr wohl aber eine Belegschaft, die nachvollziehen kann, warum sich Dinge verändern und in welche Richtung. Nur so können wir die Innovationskraft unserer Mitarbeitenden entfesseln. Es geht daher auch um Leitplanken, konkrete Befähigung, die richtigen Rahmenbedingungen und Incentivierung, zum Beispiel im Rahmen der Vergütung. Im Jahr 2050 werden rund 40 Prozent der heute bei Continental Beschäftigten voraussichtlich noch im Berufsleben stehen. Sie werden Teil der Transformation sein, diese mitgestalten und von ihr profitieren. 2050 ist übrigens auch meine persönliche Zielmarke: Dann werde ich mich hoffentlich in den Ruhestand verabschieden. Aber egal, wie lange wir alle noch im Berufsleben stehen: Gemeinsam werden wir als Continental die Chancen nutzen und ein Gewinner der Transformation sein.
Worauf sind Sie besonders stolz?
Wir haben innerhalb kurzer Zeit eine Menge erreicht. Das geht nur durch vertrauensvolle Zusammenarbeit von vielen Menschen. Und den Mut einzelner Kolleginnen und Kollegen. Unsere ambitionierten Klimaziele, die wir schon 2019 verabschiedet haben, hat der Vorstand vorausschauend vor dem Green-Deal-Beschluss der Europäischen Union gesetzt. Unsere Umweltabteilung war mit dem Ansatz ein Vorreiter. Da gab es keine Angst vor dem kalten Wasser, in der alten Ingenieurszuversicht: Wir machen das jetzt einfach mal, weil es richtig und zukunftsweisend ist. Wenn wir Nachhaltigkeit annehmen und „umarmen“, können wir die Chancen der Transformation optimal nutzen. Das war genau die richtige Entscheidung. Und genau diesen Mut hatten wir auch mit unserer Nachhaltigkeitsambition. Das ist der Aufbruch in eine nachhaltige Zukunft – mit vielen Geschäftschancen für unser Unternehmen.
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